Wer bin ich?
Klar weiß ich, wer ich bin. Ich habe einen Namen, ich wurde geboren und habe einen Beruf. Dann nehmen wir einmal den Beruf weg, weil er beispielsweise in der heutigen Welt nicht mehr gebraucht wird. Bin ich dann noch ich? Ja klar, denn der Beruf hat mir vielleicht einen Lebensinhalt gegeben, aber letztendlich hat er mich doch nicht ausgemacht. Auch ohne Beruf bin ich. Der Name, den man mir nach der Geburt gegeben hatte, ist willkürlich gewählt, ohne dass man mich wirklich gekannt hat. Bin ich ohne Namen noch ich? Ja klar, denn ich sehe mich ja immer noch im Spiegel. Angenommen meine Zehen wären bei einer Ersteigung des Mount Everest erfroren und sie mussten amputiert werden, was natürlich sehr unschön ist (ich würde aber auch nicht auf den Mount Everest klettern wollen). Aber bin ich dann noch ich, auch wenn mir Zehen fehlen? Ja klar. „Wer bin ich?“ ist eines der ersten Koans, die frisch ordinierte Mönche im Theravada-Buddhismus bekommen. Die Antwort auf diese Frage kann sofort gefunden werden, nach Monaten oder erst nach Jahren.
Die Nonne Chiyono fand die Antwort in einer ganz alltäglichen Handlung. Chiyono lebte im 13. Jahrhundert n.u.Z. und war die erste weibliche Zen-Meisterin. Vieles weiß die Forschung nicht über sie. Einige wenige Gedichte hat sie hinterlassen, so eben auch über das Koan, die Rätselfrage: „Wer bin ich?“ Sie erkannte die Antwort als sie Wasser holte. Chiyono studierte Zen im Engaku-ji Tempel, der von dem chinesischen Zen-Mönch Mugaku Sōgen 1282 gegründet worden war. Die Antwort auf die Koan-Frage „Wer bin ich?“ präsentierte sich Chiyono sehr plötzlich und vor allem nicht nach einer stundenlangen Meditation. Die Antwort kam im ganz Alltäglichen. Sie marschierte in einer Vollmondnacht los, um mit einem alten Eimer Wasser zu holen. Warum auch immer … Der Eimer war mit Bambusfasern zusammengehalten worden, die aber schon länger nicht mehr erneuert worden waren. Als sie mit dem vollen Eimer zurückkam, sah sie auf der Wasseroberfläche den Mond sich leuchtend spiegeln. Plötzlich rissen die Bambusfasern und der Boden fiel aus dem Eimer und genau in diesem Moment fand sie die Antwort auf ihr Koan.
Überliefert ist ein Gedicht, das sie anschließend schrieb:
Auf manche Weise versuchte ich, den alten Eimer zu bewahren,
weil der Bambusstrick zerschlissen war und nah am Reißen,
bis zuletzt der Boden herausfiel.
Kein Wasser mehr im Eimer!
Kein Mond mehr im Wasser!
Reps, P. (1993). Ohne Worte – ohne Schweigen (9.Aufl.). O. W. Barth.